Jörg, Uta fahren am Mittwoch den 15.03. 2017 gegen 06:30 Uhr in Wiesbaden los und nehmen in Imst Peter mit. Bärbel, Klaus und Guido trödeln noch etwas und kommen erst eine Stunde später los. Die Fahrt beider Fahrzeuge verläuft ohne Pannen und ohne Stau.
Gegen 15:00 Uhr treffen wir uns in Vent (1895 m). Es ist schon fast frühlingshaft warm. Zum Glück haben wir etwas recherchiert, und so finden einen kostenlosen Parkplatz am hintersten Ende von Vent. Jetzt noch schnell in die Skiklamotten, und schon kann es losgehen! Ein Blick auf die umherstehenden Berge verrät: Viel Schnee ist nicht mehr da. Vielleicht ist es ja weiter oben besser.
Der Aufstieg zur Martin-Busch-Hütte (2501 m) gestaltet sich etwas schwierig. Der Weg verläuft am steilen rechten Hang des Niederbachtales und so gleiten beide Ski fast immer auf unterschiedlichen Höhen in der Spur. Jörg wird dann am Abend die Länge der Beine vermessen aber feststellen, dass sie immer noch gleich lang sind. Drei Stunden brauchen wir bis zur Hütte. Als wir ankommen, ist es schon ziemlich dunkel. Wir bekommen trotzdem noch ein leckeres Abendessen.
Die aktuelle Lawinengefahr ist gering bis mäßig, was uns einen großen Spielraum für unsere Unternehmungen lässt. Wir planen noch etwas und entscheiden uns für den Similaun (3618 m) als Eingehtour. Ich bin etwas überrascht über den Eifer der Teilnehmer, denn eigentlich sah mein Plan für die Eingehtour einen niedrigeren Gipfel vor. Aber wahrscheinlich ist es das zu erwartende Superwetter das alle auf die hohen Berge zieht.
Am Donnerstag gegen 08:00 Uhr starten wir. Es ist wirklich traumhaft – kein Wölkchen am Himmel. Nach einem Aufstieg durch das Niederjochbachtal Richtung Similaunhütte, sollte laut Karte bei 2800 m der Niederjochferner beginnen. Er ist bis auf einige Toteisfelder nicht mehr da, und auch die rechtsseitig des Marzellerkammes herabziehende Gletscherzunge fehlt. Auf meiner alten DAV-Karte von 1986 verläuft die Aufstiegsspur immer in unmittelbarer Nähe des Marzellerkammes in einer Linkskurve hinauf. Dieser Weg ist nicht mehr passierbar, wir müssen viel weiter in den Süden ausholen und die weiter oben ins Tal hinabreichende Gletscherzunge für unseren Aufstieg nutzen. Die Klimaerwärmung ist mit dem alten Kartenmaterial richtig wahrnehmbar! Welch eine Veränderung in nur 30 Jahren! Allein zwischen den Jahren 2014/15 soll der Gletscher insgesamt 88 m kürzer geworden sein.
Nach einem Anstieg von ca. 1,5 Stunden stehen wir vor dem Gipfelgrat der Similaun. Wir steigen den ziemlich einfachen Gipfelgrat hoch und erleben ein traumhaftes Gipfelpanorama. Fast im Süden hinter dem Vintschgau die drei Pyramiden des Ortlers, weiter westlich die Bernina und der Piz-Palü. In unmittelbarer Nähe die mächtige Pyramide der Hinteren Schwärze mit ihrer steilen Nordwand und weiter im Nordwesten die Weisskugel und im Norden die Wildspitze. Ganz im Südosten hinter dem Etschtal sehen wir die Plattenberge der Dolomiten.
Nach der Gipfelrast fahren wir zur Similaunhütte (3030 m) ab und stärken uns dort mit Schokokuchen. Auch hier oben liegt so wenig Schnee, dass wir die Ski über das Niederjoch stellenweise tragen müssen. Die Abfahrt zur Martin-Busch-Hütte ist dann nur noch ein Klacks. Die Pächter, die Familie Pirpamer ist freundlich und kompetent. Sie wissen Bescheid über die momentanen Gegebenheiten und benennen die Gefahrenstellen. So soll es sein!
Für den Freitag ist der Übergang zum Hochjochhospiz geplant. Mein Vorschlag, den Übergang ohne einen Gipfel zu machen, wird schnell überstimmt. Es muss da doch noch einen lohnenden Gipfel geben, oder? Er ist auch schnell in Form der Fineilspitze (3514 m) gefunden. Wir steigen also am frühen Morgen wieder die uns bekannte Route Richtung Similaumhütte hoch und biegen bei ca. 2800 m gegenüber dem Niederjochferner nach Westen auf das Hauslabjoch zu ab. Hier gibt es etwas interessantes zu besichtigen, und zwar die Fundstelle des berühmtesten Tirolers aller Zeiten (außer Luis Trenker) – des sogenannten Ötzi. Auf dem Tisenjoch wurde er 1991 von zwei Wanderern entdeckt, gerade als er aus dem Gletschereis herausschmolz. Nach dem Fund entbrannte zwischen den Nord- und Südtirolern ein erbitterter Streit darüber, auf wessen Staatsgebiet die Mumie nun schließlich gefunden wurde. Da man Ötzi zu diesem Sachverhalt nicht mehr befragen konnte, wurden eingehende Vermessungen des Grenzverlaufes durchgeführt die schließlich zu dem Ergebnis führten, dass Ötzi 93 m von der Grenze entfernt auf italienischem Boden lag. So kam es, dass Ötzi nach vielen Irrungen und Wirrungen nun in Bolzano zu besichtigen ist.
Hinter dem Tisenjoch geht es etwas in Schlangenlinien durch die Landschaft bis zum Hauslabjoch. Ein kurzer Abstecher nach Nordwesten bringt uns an den Fuß des Nordostgrates der Fineilspitze. Hier beginnt der Aufstieg über schneedurchsetztes Blockwerk zum Gipfel. Der Grat steilt sich mehr und mehr auf, wir klettern nun im II-ten Schwierigkeitsgrad. Hier ist Schwindelfreiheit angesagt. Der letzte Teil des sehr schmalen Grates verläuft fast waagerecht bis zum eigentlichen Gipfel. Am Gipfelkreuz haben höchstens vier Leute Platz. Rund herum gähnt die Tiefe. So verwundert es nicht sehr, wenn wir ziemlich rasch diesen Ort nach einem Gipfelfoto verlassen. Nach dem Abstieg zum Skidepot stärken wir uns etwas, schnallen die Skier an und wedeln in die Tiefe dem Hochjochhospiz zu. Die Abfahrt führt uns über den nördlichen Hochjochferner zu einer Hängebrücke im hinteren Rofental. Je tiefer wir kommen, desto mehr wird das Wedeln zu einem „um die Kurve ochsen“. Hier kann Peter sein fahrerisches Können zeigen. Wir anderen haben plötzlich das Gefühl, zum ersten Mal auf den Skiern zu stehen. Hinter der Hängebrücke heißt es nicht etwa, die Felle aufziehen und auf die Hütte hochsteigen. Nein, hier erwartet uns ein schneefreier seilversicherter Klettersteig. So mühen wir uns also die letzten 100 Höhenmeter mit den Brettern am Rucksack den Steilhang hoch. Ziemlich erschöpft kommen wir oben an. Jetzt muss zuerst mal ein kühles Getränk her!
Das Hochjochhospiz ist freundlich eingerichtet und zu unser aller Überraschung so gut beheizt, dass uns bald der Schweiß ausbricht. Das erlebt man nicht alle Tage. Das Abendessen ist köstlich und durch die immer wieder angebotenen Nachschläge reichlich. Der Wirt, Thomas Pirpamer erweist sich ebenfalls als Kenner des Tourengebietes. Für den wenigen Schnee könne er nichts, sagt er. Laut Wettervorhersage soll es aber die kommende Nacht schneien, so dass doch noch etwas Hoffnung bestünde.
Wir planen wieder und beschließen diesmal, nicht vom Tourenplan abzuweichen und am kommenden Tag wirklich den Fluchtkogel (3494 m) zu machen. Der Plan: Aufstieg auf dem Deloretteweg zum Ausläufer des Kesselwandferners, dann Wechsel auf die linke Gletscherseite und dort über Felsen auf das Gletscherplateau. Weiter über den Kesselwandferner auf den Gipfel, Abfahrt zum Guslarjoch, Abfahrt zum Guslarferner und über diesen zur Vernagthütte.
Samstag Früh ist der Himmel verhangen, es ist diesig und es schneit ganz leicht. Etwas lustlos schlurfen wir hinunter in die Gaststube und erleben dort eine Überraschung: Die Frühstückstische mit Tischdecken sind gedeckt wie in einem Hotel. Servietten, Teller, Tassen, Messer, alles auf seinem Platz, einfach schön. Dazu gibt es selbstgebackenes Brot, Stollen und eine reichliche Auswahl anderer Köstlichkeiten am Buffet.
Kurz vor 08:00 Uhr schultern wir unsere schweren Rucksäcke und machen uns auf. Der Fluch des häufigen Hüttenwechsels besteht darin, immer alles dabei haben zu müssen. Man kann nicht einfach etwas auf der Hütte zurück lassen. Wir steigen also den steilen harschigen Hang hinter der Hütte hinauf und wenden uns recht bald dem Gletscherbruch des Kesselwandferners zu. Die Sicht wird nicht besser und es beginnt immer mehr zu schneien. Wir sind nicht die einzigen die heute den Übergang zur Vernagthütte über den Fluchtkogel machen wollen. Wir gehen also weiter. Bald erblicken wir den Gletscherbruch des Gletschers. Er sieht gewaltig aus. Irgendwo in dem Durcheinander von Eis und Felsen soll es einen Durchgang auf das Gletscherplateau geben. Keiner von uns kennt das Gebiet. Wir haben lediglich eine Karte von 1984, einen Höhenmesser und einen Kompass dabei und die Aussicht auf noch schlechtere Sichtverhältnisse. Meine Hoffnung: Die Spuren der Gruppe vor uns. Doch die Gruppe ist nicht zu sehen. Wie wir später erfahren werden, hat die Gruppe ihr Vorhaben bereits aufgegeben. Wir beratschlagen also und stellen recht bald fest, dass es unter den Umständen keinen Sinn macht, später vielleicht irgendwo auf dem riesigen Kesselwandferner im Nebel herumzuirren. Wir überlegen kurz und entscheiden uns für die Guslarspitzen. Über diese ist der Übergang zur Vernagthütte leichter zu machen. Wir kehren also um und ersteigen recht flott die mittlere Guslarspitze (3126 m). Inzwischen bläst es ganz ordentlich, so dass wir alle die Windjacken angezogen haben. Ein kurzer Abstecher zum Gipfel und schon es geht gleich weiter. Zwischen der Vorderen und Mittleren Guslarspitze finden wir einen Durchgang auf ein Schneefeld. Allerdings müssen wir die Ski ein Stück über Geröll tragen. Die Abfahrt über die nordseitigen Hänge gestaltet sich wegen des lockeren Schnees angenehm. Es dauert nicht lange und wir erblicken die Vernagthütte. In dem Nebel wären wir beinahe an ihr vorbei gefahren. Nach einem kleinen Gegenanstieg mit angefellten Skiern erreichen wir die Hütte.
Die Vernagthütte ist vom gleichen Schlag wie die Martin-Busch-Hütte oder das Hochjochhospiz. Alle drei Hütten dürften in der gleichen Zeit gebaut worden sein.
Nach dem Abendessen fragen wir noch den Hüttenwirt Martin Scheiber nach den momentanen Verhältnissen. Anbetracht des Schneefalls und des starken Nordwestwindes rät er uns von der Wildspitze ab. Die Schlüsselstelle, das Brochkogeljoch (3423 m) dürfte oben ziemlich verwechtet und voller Triebschnee sein. Wir beratschlagen noch etwas und gehen ohne ein klares Ergebnis schlafen.
Am kommenden Morgen, es ist inzwischen Sonntag, unser letzter Tourentag, bläst es immer noch stark aber es schneit nicht mehr. Die Sicht ist schlecht, doch ab und zu kommt die Sonne heraus. Wie wäre es, wenn wir den Fluchtkogel von der Vernagthütte versuchen würden. Von hier aus wären wir in etwa 3 Stunden auf dem Gipfel und das zu überwindende Guslarjoch (3361 m) sollte keine Probleme machen. Wir diskutieren und entscheiden schließlich ganz demokratisch.
Zum Glück müssen wir am Rückweg vom Fluchtkogel nochmals an der Vernagthütte vorbei und so können wir Klettergurt, Seil und Steigeisen an der Hütte lassen. Endlich mal ein leichter Rucksack! Wir brechen gegen 08:00 Uhr auf, umrunden auf dem Sommerweg die Hintergraslspitze und betreten bald darauf den Guslarferner. Es liegt Neuschnee und so müssen wir ordentlich Spuren. Der Aufstieg zum Fuß des Oberen Guslarjochs ist auf dem recht flachen Gletscher nicht schwierig, wir können uns trotz der schlechten Sichtverhältnisse gut orientieren. Nachdem wir das Joch in tiefem Schnee ziemlich kraftraubend erklommen haben und die Sicht immer noch schlecht und der Wind immer noch böig ist, entscheiden wir, uns die letzten 140 Höhenmeter zum Gipfel zu schenken. Unser Wetterprophet Jörg mahnt uns indes zur Ruhe, denn laut Wetterbericht soll in etwa einer halben Stunde die Sonne herauskommen. Wie schön wäre es, bei Sonnenschein auf dem in Steinwurfnähe liegenden Berg zu stehen. Da es mit den Propheten aber immer so ist, dass sie nur in der Ferne etwas gelten, machen wir die Felle von den Skiern und erleben in der folgenden Stunde die beste Abfahrt aller Tourentage. Bei leichtem Sonnenschein wedeln wir in traumhaften Neuschnee der Vernagthütte entgegen. Hier essen wir noch eine Kleinigkeit, sammeln unser zurückgelassenes Material ein und machen uns auf den Rückweg ins Tal nach Vent.
Der Abstieg durch das Vernagtbachtal wird wegen des Mangels an Schnee zur echten Plackerei. Wir müssen die Skier über lange Strecken tragen. Zum Schluss geraten wir oberhalb der Seilbahn zur Breslauer Hütte in bodenlosen Faulschnee. Das ist mit den schweren Rucksäcken ein wahres Vergnügen. Als wir im Talboden ankommen, freue ich mich richtig, dass sich keiner die „Haxen“ gebrochen hat. Dank freundlicher Tourengeher werden Bärbel und Jörg von den Rofenhöfen aus mit dem Auto nach Vent mitgenommen. So können wir restlichen in aller Ruhe die Ankunft unserer Freunde abwarten und unsere Ausrüstung sortieren. Die Rückfahrt nach Wiesbaden verläuft durch das lange Ötztal und über den Fernpass wider Erwarten ohne jeden Stau.
Die Venter Runde war ein super-schönes Skierlebnis mit riesigen Glescherflächen, markanten Gipfeln und rassigen Abfahrten. Die drei von uns besuchten Hütten haben uns sehr gut gefallen. Die Bewirtung und die Ortskenntnisse der Pächter waren ausgezeichnet. Kommendes Jahr wollen wir unsere Erkundung der Ötztaler Alpen fortsetzen – jeder der es sich zutraut, ist dazu ganz herzlich eingeladen.
Guido Künzel