Die Schneeschuh-Touren mit Inge und Jürgen sind immer etwas Besonderes. Aber diese fünf Tage Mitte März im Sellrain werden wir sicher so schnell nicht vergessen. Nicht nur wegen der imposanten Landschaft und der tollen Gruppe – sondern auch, weil wir oben auf der Schweinfurter Hütte in einer Art Traumwelt lebten, während unten in der Realität die Corona-Krise immer schlimmere Formen annahm.
Dabei schien alles noch gut beherrschbar, als wir am Donnerstagfrüh den 5:26-Uhr-ICE in Richtung München bestiegen. Viele von uns hatten noch am Mittwochabend alle relevanten Seiten im Internet durchgesehen. Tirol war kein Risikogebiet, es gab für uns auch keine Anzeichen dafür, dass sich das schnell ändern würde. Eine Fehleinschätzung, wie wir schon drei Tage später bitter erfahren mussten. Und so lebten wir schon bald quasi in zwei verschiedenen Welten – unserer unmittelbaren Gegenwart und den Geschehnissen rund herum. Deshalb besteht dieser Bericht auch aus zwei Teilen.
1. Tolle Tage im Schnee
Ordentlich ins Schwitzen kamen wir bereits beim Aufstieg von Niederthai zur Schweinfurter Hütte (2.028 m), als die Sonne zum ersten Mal zeigte, welche Kraft sie hatte. Am Freitag brachten uns dann unsere Tourenleiter Inge Seemann und Jürgen Zilias ins Schwitzen, die beim Aufstieg zur Breiten Scharte (2.788 m) eine Route in den Schnee „zauberten“, die wahrlich das ganze Spektrum einer Wintertour abdeckte: Es war kalt, windig, steil, ausgesetzt und rutschig, aber es gab auch eine tolle Aussicht und am Ende ein paar Sonnenstrahlen. Unterwegs ereignete sich noch das „Wunder der verlorenen Flasche“, die Peter verlor und die ihm Skitourengeher („Haben wir gefunden, gehört die euch?“) wiederbrachten. Das Abendessen (das wie immer in der sehr empfehlenswerten Schweinfurter Hütte sehr lecker war) hatten wir uns redlich verdient.
Der Samstag wird als das „große An- und Ausziehen“ in die Sektionsgeschichte eingehen. Jürgen hatte -10 Grad angekündigt und lange Unterhosen dringend empfohlen – und so startete die Gruppe dick vermummt zur Längentaler Scharte (2.654 m). Aber diesmal kam die Sonne deutlich früher und deutlich kraftvoller. So wanderten nach und nach immer mehr Kleidungsstücke in die Rucksäcke und zwei Stunden nach dem Start war die erste Dame bauchfrei unterwegs. Der später einsetzende Schneefall wurde zur willkommenen Erfrischung. Dass unterwegs noch die Winter-Erstbesteigung des zu Unrecht meist übersehenen Kleinen Finstertalers (2.261 m) über den Nordostgrat gelang, rundete einen tollen Tag ab.
Der Höhepunkt (nicht nur geografisch) war dann der Sonntag, an dem wir die Kraspesspitze (2.954 m) bezwangen. Erst sehr steil über einen kleinen Buckel, dann gemütlich durch ein weites Tal und schließlich über ein paar Felsen zum Gipfel. Von dort eine wunderbare Aussicht aufs Inntal samt Innsbruck – und auf den Patscherkofel südlich von Innsbruck, dem wir im vergangenen Winter einen Besuch abgestattet hatten. Ein richtiger Genuss war dann auch noch der Abstieg über den ersten Steilhang, aber dann kam die Sonne mit Macht. Wir fühlten uns ein bisschen wie Grillgut – und das erste Bier auf der Hütte war ein Hochgenuss. An diesem Tag haben wir alle Berg-Eindrücke regelrecht aufgesaugt – und viele haben gesagt oder gedacht: Wer weiß, ob wir in diesem Jahr nochmal einen so schönen Tag erleben dürfen.
2. Bange Blicke nach unten
So schön die Tage im Sellrain auch waren – an jeder möglichen Stelle mit Handy-Empfang unterwegs und rund um die Hütte (beim Murmeltier und links vom Kreuz) wurden die Mobiltelefone rausgeholt. Per Telefon und SMS holten wir uns die neuesten Infos von der Corona-Front. Vor allem Hilke und Joachim, die schon am Samstag zurückfahren mussten, versorgten uns mit Informationen. Und die waren schlecht. Tirol wurde zum Corona-Risikogebiet erklärt, für den Montag (unseren Abreisetag) wurde angekündigt, dass alle Restaurants, Hotels und Hütten schließen müssten. Eine Katastrophe für die Pächterfamilie und ihre Hilfskräfte.
Wir überlegten in alle Richtungen, was am besten zu tun sei. Sofortige Abreise oder reguläre Rückreise am Montag? Es war ja bereits klar, dass wir in Deutschland alle in Quarantäne mussten, die Frage war nur: Kommen wir überhaupt zurück? Schließlich entschieden wir uns dafür, wie geplant erst am Montag abzureisen. So hofften wir, den allgemeinen Rückreisetrubel umgehen zu können und damit die Gefahr zu minimieren, zu vielen Menschen zu begegnen. Diese Entscheidung war richtig, wie sich zeigen sollte. In den Bussen und Bahnen war es sehr leer und wir kamen gut durch, obwohl der Rückreisetag zu einem echten Abenteuer wurde:
9.00 Abmarsch Schweinfurter Hütte
10.30 Ankunft Niederthai
11.15 Taxi nach Umhausen
12.16 Bus nach Ötztal
13.48 Zug nach Kufstein
14.51 Ankunft Kufstein, Marsch über die Grenze (mit Polizeikontrolle) nach Kiefersfelden
16.06 Zug Richtung München
16.51 Ausstieg in Aßling wegen eines Gefahrgutunfalls, Einstieg in Schienenersatzverkehr (Bus)
18.10 S6 von München Ost zum Münchner Hauptbahnhof
18.51 Abfahrt ICE Richtung Frankfurt
22.16 Abfahrt S1 Richtung Wiesbaden
22.54 Ankunft Wiesbaden
Fazit: Tolle Tourentage, tolle Organisation von Inge und Jürgen, tolle Gruppe. Aber am Ende ein Abschied von den Bergen, der uns diesmal noch schwerer fiel als sonst. Wann können wir wiederkommen?
Nachtrag eins (Ende März): Wir sind jetzt alle in Quarantäne und machen zum Teil Home Office. Aber es geht allen gut, offenbar hat sich noch niemand angesteckt.
Nachtrag zwei (Mitte Mai): Wir sind alle wieder im “normalen” Berufsleben angekommen (falls man das eben so nennen kann). Soweit wir wissen, hat sich niemand mit dem Virus angesteckt.
Bericht: Matthias Weber
Bilder: Bärbel Hubbes, Hilke Smit-Schädla, Inge Seemann, Peter Steinkönig, Matthias Weber